Manfred Weinland

Neverending Story ...

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Hätte ich diesen Beitrag gestern auf meine Seite gestellt, hätte ich mich dem Verdacht ausgesetzt, es handele sich um einen Aprilscherz. Und auch heute, am 2. April, mag so mancher denken, es könnte genau das sein – nur eben ein wenig verspätet.

Aber es gibt Hoffnung. Für diejenigen zumindest, die auch nach all der seit Serienstart vergangenen Zeit noch wissen wollen, wie es mit KONTINUUM weitergeht.

Einmal monatlich werde ich die Story um ein neues Kapitel ergänzen, um so peu à peu mich und die Leser mit neuen Ent- und Verwicklungen zu überraschen.

Beginnen wir aber mit der wohl nötigen Auffrischung der Erinnerung an Folge 1:

RÜCKBLICK

Ein gigantisches Raumschiff unbekannter Herkunft erscheint zwischen den Sternen. Der Talianer Qiliis ist dem voyden Objekt – wie er es in Anlehnung an die verschwundene Superrasse der Nyn‘On’Voyd, die einst die Galaxie Goor beherrschte, nennt – am Nächsten. Aber es hat auch die Begehrlichkeiten der gefürchteten Kuyper geweckt, die mit einer Flotte erscheinen, um das Gebilde in ihren Besitz zu bringen.

Ein erbarmungsloser Kampf um das Schiff, dessen Besatzung kein Lebenszeichen von sich gibt, entbrennt. Die Talianer werden beinahe bis auf den letzten Mann aufgerieben, nur Qiliis überlebt. In einer Weise jedoch, die er sich niemals hätte erträumen können – oder wollen.

Auch an Bord des umkämpften Fremdraumers regt sich schließlich wieder zaghaftes Leben. Doch keiner der der beiden erwachten Besatzungsmitglieder besitzt auch nur einen Funken Erinnerung. Für die beiden Nargen – so nennt die KI Sesha sie – liegen ihre Herkunft und die Umstände ihres Gedächtnisverlusts im völligen Dunkel.

Das ändert sich erst, als Yael und Jiim herausfinden, dass ihre Amnesie mit dem Fesselfeld zusammenhängen muss, das ihr Raumschiff in Ketten gelegt hat. Außerhalb des Schiffes kehren die Erinnerungen sturzbachartig zurück.

In der Folge gelingt es, ein geheimnisvolles Wesen namens Qiliis aufzuspüren und an Bord des Schiffes zu bringen. Der Fremde ist in einem denkbar schlechten Zustand, sodass die Schiffs-KI sich seiner annehmen muss.

Indes müssen Yael und Jiim nach ihrer Rückkehr an Bord feststellen, dass ihnen erneut sämtliche – auch die gerade erst wiedergewonnenen – Erinnerungen genommen werden. Solange das Fesselfeld Bestand hat, wird sich an ihrer Misere nichts ändern. Um es aber auszuschalten, bedarf es umfassender Kenntnis der Technik, die es erzeugt, und die besitzt nur der Gefangene. Doch kann er zur Kooperation überredet werden? Und wird er darüber hinaus verraten, welche Umstände dazu führten, dass das wie eine gigantische, verdrehte Acht geformte Schiff einst in Ketten gelegt wurde?

Noch bilden Yael und Jiim die Ausnahme, was ihren Wachzustand angeht. Das Gros der Besatzung liegt nach wie vor im Staseschlaf, auch der Mann, der einmal das Schiff befehligt hat und besser als jeder andere wissen müsste, woher es kommt und welche Umstände zu den Verhältnissen an Bord geführt haben.

RAPPORT EINES STERBENDEN

Band 2 der Serie „KONTINUUM – Raumschiff RUBIKON – Die neuen Abenteuer“

Kontinuum 2

Cover von Arndt Drechsler

Kapitel 1

Die Stase gab ihn nur widerstrebend frei, zumindest kam es dem Schläfer so vor. Irgendwann aber schüttelte er die letzten Reste der traumlosen Schwärze ab, die ihn durchdrungen hatte.

Über ihm, eingebettet in wattige Helligkeit, tauchten Gesichter auf, ihm ebenso fremd, wie er sich selbst.

Wer… bin ich?

Als hätte sie den bloßen Gedanken „gehört“, meldete sich prompt eine Stimme, die jedoch keinem der sichtbar gewordenen Münder zuzuordnen war: Sie klang künstlich und einschmeichelnd und begrüßte ihn mit den Worten: „Willkommen zurück, Commander Cloud!“

Cloud – sollte er das sein? Und was bedeutete dieses Commander? Commander wovon?

Absurderweise kannte er die Bedeutung des Begriffs, während alles, was er über sich selbst oder seine Umgebung hätte wissen sollen, vollkommen blockiert war. Jeglicher Versuch, irgendetwas aus seinem Leben abzurufen, scheiterte. Sein Verstand schien von einer Wand, so weiß und unbeschrieben wie ein leeres Blatt Papier, zurückgeschmettert zu werden.

Papier. Ein antiquiertes Konzept – sagte ihm ein Gefühl. Er schwang, ohne eine Aufforderung abzuwarten, die Beine über den Rand der Wanne und glitt an der Außenfläche hinab zum Boden, der gut zwei Meter tiefer verlief als die Fläche, auf der er zu sich gekommen war. Kaum stand er auf seinen Füßen, gab die Konstruktion, gegen die er sich mit einer Hand stützte, nach und sank dem Boden entgegen, bis sie aufsetzte.

„Genauso ungeduldig wie wir“, kommentierte eine der merkwürdigen Gestalten, die bei ihm waren. Beide machten einen maskulinen Eindruck und schienen der gleichen Spezies zu entstammen, die aber nicht Homo sapiens war.

Der Mann, der mit dem Namen Cloud – Commander Cloud – angesprochen worden war, versuchte die Diskrepanz zwischen nüchternem Faktenwissen und dem anhaltenden Fehlen jeglicher persönlicher Erinnerung zu ignorieren.

Eines seiner beiden Gegenüber hatte ockergelbe Haut und fedrige Flügel, der andere einen goldenen Hautton und keine Schwingen. Beide waren kahlköpfig und schmallippig, die Augen fast rund und die Nasen nur rudimentär ausgebildet, ebenso die Ohren, die keine ausgeprägten Muscheln waren, wie Menschen sie besaßen.

Ich bin ein Mensch.

Noch so eine Erkenntnis aus dem Nichts. Der Erwachte fuhr sich unwillkürlich durchs Haar und ließ anschließend die Hand über sein Gesicht gleiten; sein „gefühltes“ Wissen, was sein eigenes Äußeres anging, bestätigte sich dabei in jedem Detail.

„Kennen wir uns?“, wandte er sich an die beiden einander ähnlichen und doch verschiedenen Gestalten.

„Sesha behauptet ja.“ Die Worte kamen aus dem Mund des Geflügelten.

„Sesha?“

„Die KI, die hier das Regiment führt.“

Das Regiment.

„Ich dachte, ich sei der Commander.“

„Sagte sie uns auch.“

„Und…?“

„Momentan erfüllst du wohl nicht die Voraussetzungen, dass sie bereit wäre, dir die Kontrolle über das Schiff zu übertragen.“

„Wir sind auf einem Schiff?“

„Einem Raumschiff, um genau zu sein.“ Zum ersten Mal mischte sich auch der Goldene ein, der jünger als der Ockerfarbene wirkte. „Du weißt, was das ist. Genau wie du die Bedeutung des Begriffs KI kennst – nicht wahr, John Cloud?“

John Cloud. War das sein vollständiger Name? „Wer von euch sagte noch mal das mit ‚ungeduldig‘?“

„Ich.“ Der Geflügelte.

„Daraus könnte man schließen, dass es euch ähnlich ergangen ist wie mir?“ Er setzte ein Fragezeichen hinter seinen Satz, den der Ockerfarbene durch ein Ausrufezeichen ersetzte.

„Absolut!“

„Dann sind wir… Leidensgenossen?“

Auch wenn sie keine Menschen sein konnten, orientierte sich ihre Gestik an solchen. Sie nickten unisono.

„Wie heißt ihr?“

„Jiim“, sagte der älter Wirkende, der mit den Flügeln, die aus den Schulterblättern wuchsen und ausgebreitet eine beachtliche Spannweite besitzen mussten.

„Yael.“

„Jiim und Yael. Und da ihr keine Menschen seid, seid ihr was?“

„Nargen.“

„Okay …“

„Alles Weitere erfährst du aus dem, was Sesha dir vermitteln wird. Es geht sicher gleich los. Bei uns hat sie auch keine Zeit verloren – auch beim zweiten Mal nicht“, kündigte Yael an.

„Genug der einleitenden Worte“, erklang prompt die Stimme der KI.

„Sesha?“

„Korrekt, Commander. Ich setze dich jetzt über die Lage ins Bild. Danach solltest du unverzüglich mit Jiim und Yael darangehen, das Problem zu beseitigen.“

„Welches Problem?“

„Wir sitzen in einer Falle gewaltigen Ausmaßes“, übernahm Jiim das Wort. „Sie ist schuld daran, dass wir keinerlei Erinnerung an unser Vorleben haben und uns einstweilen mit dem begnügen müssen, was uns dieses körperlose Gespenst hier einbläut.“

Eine Falle.

Darüber und über das bereits absolvierte erste Kommandounternehmen, an dem John Cloud noch nicht beteiligt gewesen war, unterrichtete Sesha ihn im Detail. Demnach befanden sie sich auf einem Raumschiff namens RUBIKON, wobei die KI einräumte, dass es von seinen ursprünglichen Besitzern FELOR getauft worden sei.

„Ursprüngliche Besitzer?“, hakte Cloud sofort ein. „Was ist aus ihnen geworden – und wer waren sie?“

„Später“, vertröstete Sesha. „Alle relevanten Nebeninformationen fließen dir und den Nargen zu, sobald ihr das Eindämmungsfeld verlasst.“ Die KI erläuterte, dass die äußerlich einer verdrehten Acht ähnelnde RUBIKON sich in einem höhlenartigen Raum befand, über dessen schroff felsige Innenwand mehr als zwei Dutzend Fesselfeld-Projektoren verteilt waren. Von ihnen wurde das Raumschiff fixiert. Der verwendeten Strahlung war jedoch ein Nebeneffekt eigen, der die Schuld an der Totalamnesie trug, die das organische Leben an Bord befallen hatte. Ausgenommen davon war lediglich die rein technische Intelligenz, die Sesha repräsentierte.

Die KI setzte ihn über die Mission ins Bild, die hinter den beiden Nargen lag und die dazu geführt hatte, dass überhaupt Informationen über das Draußen jenseits der Schiffswände existierten.

„Du kannst was tun?“, wandte er sich ungläubig an den flügellosen Goldenen. „Einen ‚Avatar‘ erzeugen, der dich und andere nach Belieben an ferne Orte transportiert? Wie muss ich mir das vorstellen?“

Yael lächelte schüchtern, was die Vorstellung, er könnte eine derartige Supergabe besitzen, noch absurder erscheinen ließ. „Genaugenommen“, sagte er, „sind es immer zwei Avatare. Der eine bildet den Einstieg, der andere den Ausstieg. Um zur Startposition zurückzukehren, wird der ‚Empfänger‘ dann zum ‚Sender‘. Das Ganze ist also keine Einbahnstraße.“

„Beruhigend. Wie sehen diese Avatare aus?“

„Wie täuschend echte, aber extrem verkleinerte Planeten.“

„Miniaturplaneten.“ Clouds Interesse war geweckt. „Lass sehen.“

„Er sollte seine Kräfte schonen, bis sie wirklich benötigt werden“, erhob die KI Einspruch. „Ich fahre jetzt mit dem Briefing fort.“

Cloud erfuhr den Hergang des ersten Unternehmens, das Yael und sein Elter Jiim gemeinsam bestritten hatten. Offenbar waren sie innerhalb des Hohlraums, in dem die RUBIKON steckte, in eine Station eingedrungen, in der sich ein einzelnes Fremdwesen aufgehalten hatte, mit dem keine Kommunikation zustande gekommen war. Das Wesen hatte den Nargen keinerlei Widerstand geleistet – oder leisten können – und war von ihnen mit zurück an Bord gebracht worden. Dort hatte Sesha es als Talianer identifiziert, als Angehörigen eines Volkes, mit dem die Erbauer des Achtenschiffs offenbar schon einmal konfrontiert worden waren; unter welchen Umständen jedoch, ließ die KI im Dunkeln.

„Als wir ins Schiff zurückkehrten“, ergänzte Jiim die Ausführungen, „verloren wir laut Sesha wieder all die Erinnerungen, die jenseits der Fesselstrahlung wieder in uns zurückgeflossen waren. Es fühlte sich an, als würden sie an- und wieder ausgeknipst.“

„Woher wollt ihr dann – du, Sesha eingeschlossen – wissen, was da draußen vor sich geht und unter welchen Umständen ihr den Fremden… diesen Talianer… aufgegriffen habt?“

„Unsere Anzüge haben alles aufgezeichnet. Mit den so gewonnenen Daten arbeitet die KI seither. Sagt sie jedenfalls.“

„Und der Talianer?“

„Qiliis wird von mir behandelt“, erklärte Sesha. „Die Bordatmosphäre wurde in dem Bereich, in dem meine Helfer sich um ihn kümmern, an seine metabolischen Bedürfnisse angepasst.“

„Qiliis? Du kennst sogar seinen Namen – demnach ist er bei Bewusstsein und eine Verständigung mit ihm möglich?“

Zu seiner Überraschung verneinte die KI. „Ein solcher Echtkontakt steht noch bevor. Der Name des Talianers ist auf seiner Uniform vermerkt. Die Schriftzeichen konnten mit Hilfe in meinen Datenbänken befindlicher Informationen entziffert werden.“

„Wer hat diese Informationen dort abgelegt?“

„Bedaure, das weiß ich nicht.“

„Die ursprünglichen Besitzer?“

„Wie ich sagte …“

„Schon gut.“ Cloud seufzte. „Wenn ich es richtig verstehe, müssen wir die Projektoren, die das Schiff in Ketten legen und die uns als Nebeneffekt unsere Erinnerung stehlen, schnellstens ausschalten. Worauf warten wir also noch?“

„Auf Qiliis“, erwiderte die KI. „Auf sein Erwachen und darauf, dass er sich kooperativ verhält. Jede vorschnelle Aktion ohne sein Insider-Wissen könnte in einer Katastrophe enden. Wir sind schon einmal gescheitert – mehr oder weniger.“

Die KI sagte „wir“, bezog sich demnach in das Scheitern mit ein. Cloud räusperte sich. „Ich sehe da ein Problem. Ich kann mich irren, du bist hier das Superhirn, aber wie soll dein Qiliis uns mit Informationen unterstützen, wenn die Strahlung, die das Schiff aufgrund des Fesselfeldes durchdringt, organischen Intelligenzen das Gedächtnis blockiert? Und von welchem Gedächtnis reden wir überhaupt? Würde wirklich alles sofort wieder gelöscht, könnte ich mich schon jetzt nicht einmal mehr an das erinnern, was ich seit meinem Erwachen erfahren habe. Das tue ich aber.“

„Nichts wird gelöscht, das sagte ich schon“, antwortete Sesha. „Und erst recht nicht permanent, sonst wäre überhaupt keine Verständigung zwischen uns möglich. Wie genau die Strahlung sich auf einen Organismus auswirkt, konnte von mir noch nicht entschlüsselt werden. Aber die Zeit drängt. Wir sollten aktiv werden, bevor Qiliis‘ Entführung geahndet wird.“

„Du hast meine eigentliche Frage nicht beantwortet.“

„Weil ich sie erst beantworten kann, sobald der Talianer bei Bewusstsein ist. Da die Blockadestrahlung von Projektoren seines Volkes erzeugt wird, könnte es sein, dass die darin enthaltene Komponente, die euch zusetzt, Talianern selbst gar nichts anzuhaben vermag. Aber das ist Spekulation und bedarf der Überprüfung.“

„Du sagtest eingangs auch“, gab Cloud sich für den Moment damit zufrieden, „dass Qiliis bereits als Jiim und Yael ihn fanden in extrem schlechter Verfassung war. Wie ist sein Befinden aktuell? Besteht überhaupt Hoffnung, dass wir über ihn an relevante Daten gelangen können?“

„Sein Zustand wurde stabilisiert. Er leidet aber auch an keiner Krankheit, sondern lediglich an altersbedingter progressiver Zelldegeneration.“

„Altersbedingt? Wie alt werden Talianer denn deinen Untersuchungen zufolge?“

„Im Durchschnitt in etwa so alt wie die Spezies Mensch. Bei guter medizinischer und nahrungstechnischer Versorgung etwa hundert Jahre.“

„Und wie alt ist dieser Qiliis?“

„In Jahren lässt sich das nicht bestimmen. Seiner Zellbeschaffenheit nach hat er aber die durchschnittliche Lebenserwartung seiner Art bereits weit überschritten.“

John Cloud lernte die Umgebung, in der er zu sich gekommen war, näher kennen. Außer dem waagrecht schwebenden Zylinder, in dem er gelegen und dessen Deckel sich zurückgebildet hatte, sodass nun nur noch ein wannenartiges Gebilde zu sehen war, gab es noch eine unüberschaubare Zahl weiterer dieser Behälter. Zumindest in seiner Nähe waren davon nur insgesamt drei offen und, wie der seine, augenscheinlich verlassen: wahrscheinlich die, in denen die beiden Nargen geruht hatten.

„Wer befindet sich noch in diesem… wie nanntest du es, Sesha? Staseschlaf?“

Die KI bestätigte. „Es war der einzige Weg, euch zu schützen und am Leben zu erhalten.“

„Du hast das veranlasst?“

„Nachdem ich die brachliegenden Systeme für mich erschließen und nutzbar machen konnte, ja. Es vergingen allerdings mehrere Tage, während derer ihr bewusstlos euch selbst überlassen wart. Die spezielle Art eurer Bewusstlosigkeit minimierte glücklicherweise auch euren Stoffwechsel, sodass daraus keine mir bekannten, irreparablen Schäden erwuchsen.“

„Was heißt: die Systeme erschlossen? Das klingt, als hättest du dir dieses Schiff erobert.“

„Der Begriff ist unpassend. Es lag brach – wie ihr.“

„Warum? Was war die Ursache? Und von wem hast du die Systeme übernommen?“

„Ich verweise auf die bereits getätigte Aussage: Sobald das Amnesiefeld deaktiviert ist, werdet ihr dies und noch viel mehr wieder aus eigenem Vermögen wissen. Das sollte euch Ansporn sein, diese Hürde schnellstmöglich zu nehmen.“

„Wenn ich der Commander bin, von dem du sprachst, und du eine Künstliche Intelligenz, die mein Schiff managt, müsstest du mir da nicht ein klein bisschen mehr … nennen wir es Gehorsam entgegenbringen?“

„Meine Gehorsamsstufe orientiert sich allein an der Befindlichkeit des normalerweise Weisungsbefugten, Commander. Ich bereite dir also lediglich das Feld für den Moment, ab dem du im Vollbesitz deiner geistigen Kräfte bist. Bis dahin bin ich laut der in mir verankerten Statuten verpflichtet, dich selbst, die Gemeinschaft und das Schiff vor Schaden zu bewahren – soweit es in meiner Macht steht.“

„Macht könnte das Stichwort sein. Du kostest sie nicht zufällig gerade aus?“

„Definitiv und entschieden: nein.“

„Und die Gemeinschaft, von der du sprichst…“ Er ließ seinen Blick über die Zylinder schweifen. „Befindet sie sich in den Behältern hier? Wie viele sind es? Wer sind sie?“ Er rieb sich über das stoppelbärtige Gesicht. „Verdammt, ich erinnere mich an rein gar nichts, an keinen Einzigen von ihnen!“

„In den Stasezylindern befindet sich deine Mannschaft. Ihre körperliche Verfassung ist überwiegend zufriedenstellend. Sie alle bedürfen nach Beendigung der Stasis aber der unverzüglichen und umfassenden Fürsorge. Ich habe Bordhelfer dafür abgestellt, dennoch erwartet uns eine Herausforderung, die nicht ohne Zwischenfälle zu bewältigen sein wird.“

„Heißt im Klartext?“

„Es wird nicht ohne Opfer abgehen – die Statistik belegt es.“

„Es gibt eine Statistik über die Gefahren des Staseschlafs?“

„Es gibt für alles Statistiken. Als rechnerbasierte Intelligenz bin ich prädestiniert, darüber zu referieren oder sie zu erstellen.“

Er nickte, ohne sicher zu begreifen, was genau da eigentlich mit ihm kommunizierte. Er musterte die beiden menschenähnlichen Geschöpfe, die ihm als Nargen und alte Freunde vorgestellt worden waren. Obwohl beide angeblich der gleichen Spezies angehörten, unterschieden sie sich in Details wie der Hautfarbe und dem Umstand, dass der eine Flügel besaß, die ihn wie einen grotesk verfremdeten Engel erscheinen ließen, der andere aber nicht. Die Gründe für diese Abweichungen hätte Cloud liebend gern ergründet. Doch angesichts ihrer eigentlichen Probleme mussten sie unweigerlich in den Hintergrund rücken.

„Was euch beide schon mal sympathisch macht“, wandte er sich an sie, „ist, dass ihr genauso gehandicapt seid wie ich. Wir alle sind auf das angewiesen, was uns häppchenweise als ‚Wahrheit‘ serviert wird – von etwas, das nicht einmal lebt.“

„Wir teilen deine Skepsis, Mensch.“ Jiim flatterte für einen Moment so hektisch mit seinen Flügeln, dass sich eine Feder löste und zeitlupenhaft vor Cloud zu Boden sank.

Er bückte sich und hob sie auf. „Faszinierend“, sagte er und wollte sie nach kurzer Begutachtung an ihren Besitzer zurückreichen.

Jiim wirkte ratlos, was er damit anfangen sollte. Cloud begriff, dass der Narge sie nicht einfach in sein Gefieder zurückstecken konnte.

Yael fragte: „Darf ich sie haben?“

„Wozu?“, fragte sein Elter.

Obwohl Yael die Antwort schuldig blieb, händigte Cloud ihm die Feder aus.

Sekunden später brachte sich Sesha mit den Worten in Erinnerung: „Der Talianer ist zu sich gekommen. Der Talianer ist jetzt ansprechbar. Soll ich mit der Befragung beginnen, um keine Zeit zu verlieren? – Ich biete das an, weil ich nicht sagen kann, wie lange diese Bewusstseinsphase anhalten wird. – Oder willst du, Commander, sie führen?“

„Wie lange brauchen wir, um die Station zu erreichen, in der Qiliis behandelt wird?“

„Nicht lange.“

Cloud entschied sich, das Risiko einzugehen. „Warte auf unsere Ankunft – dann beginne.“

„Verstanden, Commander.“

Vor ihnen materialisierte eine Kugel aus purem Licht und entfernte sich schwebend.

„Der Wegweiser führt euch zur Hernetanten Schlinge.“

Kapitel 2

Die Hernetante Schlinge: Was für eine absonderliche Art der Fortbewegung, dachte Cloud, nachdem die Lotsenkugel sie durch ein offenes Schott geleitet hatte, hinter dem nicht nur ein weiterer Korridor wartete, sondern ein unwiderstehlicher Kraftstrom. Das, was die Passagiere mitriss, ließ den Verdacht aufkommen, dass ihre Körperlichkeit für die Dauer der Durchquerung zumindest teilweise aufgehoben war.

Cloud nahm an, dass die beiden Nargen Jiim und Yael diese Erfahrung schon vor ihm gemacht, aber wieder vergessen hatten, weil dazwischen der von Sesha geschilderte Außeneinsatz lag und ihre Gedächtnisspeicher nach der Rückkehr ins Schiff wieder geleert worden waren.

Der eigene Gedächtnisverlust machte Cloud stärker zu schaffen, als er es zunächst angenommen hatte, und falls zutraf, was die KI ihnen gegenüber postuliert hatte, gab es nur eine Möglichkeit, dieses Handicap zu beseitigen: Sie mussten die Projektoren ab- beziehungsweise ausschalten, die für die Erzeugung der Strahlen zuständig waren, die die RUBIKON in Ketten legten und auch den Nebeneffekt erzeugten, unter dem die Besatzung, abgesehen von der die KI, litt. Aber Sesha war auch kein normales Crewmitglied, keines aus Fleisch und Blut zumindest.

Cloud sehnte den Rückerhalt seiner Erinnerungen einerseits herbei, fürchtete ihn andererseits aber auch, weil abzusehen war, dass nicht nur willkommenes Wissen in ihm hochspülen würde. Die wenigen Andeutungen, zu denen sich die KI hatte hinreißen lassen, ließen befürchten, dass das, was ihre prekäre Situation verschuldet hatte, nicht weniger als eine Katastrophe ersten Ranges gewesen sein musste. Etwas so Gewaltiges, dass selbst eine Technik, wie sie in diesem Schiff verbaut war, regelrecht überrollt hatte.

Er schob die quälende Ungewissheit von sich und nahm zur Kenntnis, dass er und seine Begleiter wieder „ausgeschleust“ wurden.

Der Korridor, in dem sie sich wiederfanden, unterschied sich optisch kaum von dem, über den sie das Kraftfeld betreten hatten. Sofort war auch wieder die Lotsenkugel zur Stelle und leitete sie zu ihrem Ziel, das sie wenig später erreichten.

Den Raum, in dem versucht wurde, das Leben eines fremden Wesens namens Qiliis zu retten.

Cloud versuchte sich mental auf das, was kommen würde, vorzubereiten, schaffte es aber nur unzureichend. Zumal Sesha ihn und die Nargen mit den Worten empfing: „Der Talianer ist stärker in Mitleidenschaft gezogen, als vermutet und konnte mit keiner der von mir eingeleiteten Maßnahmen stabilisiert werden. Mir blieb nur noch, ihn in Stase zu versetzen. Sonst wäre er mir unter meinen Werkzeugen weggestorben.“

Cloud und seine Begleiter traten an die durchsichtige Behandlungszelle heran, in der sich das Fremdwesen befand. Wie tot und aufgebahrt lag es da. Ein Eindruck, der von der eingeleiteten Stase noch verstärkt wurde.

Qiliis war von annähernd humanoider Gestalt. Sein Kopf allerdings unterschied sich von dem eines Menschen oder Nargen erheblich. Ringförmig saß er auf einem kurzen, muskulösen Hals, komplett umlaufen von einem schmalen organischen Band, dem Sesha zufolge die Funktion des Sehens oblag. Sowohl Arme als auch Beine endeten in hand- beziehungsweise fußähnlichen Greif- und Gehwerkzeugen.

Aufgerichtet, schätzte Cloud, hätte der Talianer ihm allenfalls bis zu den Schultern gereicht. Dennoch wirkte er alles andere als schmächtig.

Sesha hatte über die Talianer noch nicht viel mehr verraten als den Namen, der in den Datenbänken des Schiffes hinterlegt war, und die durchschnittliche Lebenserwartung dieser Spezies.

„Stase“, wiederholte Cloud die Erklärung der KI. „Heißt das, unsere Hoffnung, der Talianer könnte uns bei der Abschaltung der Fesselstrahlen behilflich sein, hat sich bereits zerschlagen?“

„Nicht zwangsläufig“, sagte Sesha.

„Nein? Das musst du mir erklären.“

„Es wirkt nicht böse“, sagte Yael, bevor die KI Stellung beziehen konnte. Dabei trat er noch einen Schritt näher an den Liegenden heran, als Cloud und Jiim. „Wir können es nicht sterben lassen. Es muss eine Möglichkeit geben, ihm zu helfen.“

Das Schicksal des Talianers schien Yael noch näherzugehen als Cloud oder seinem Elter.

„Sesha?“, wandte sich Cloud an die KI. „Ich hatte dich aufgefordert …“

Das Schweigen der KI hielt an. Ein Hinweis darauf, dass die Strahlung, unter der die biologische Besatzung des Schiffes zu leiden hatte, auch an einem künstlichen Geschöpf nicht spurlos vorbeiging?

„Vielleicht können wir eine positivere Prognose, den Fremden betreffend stellen, wenn wir erst unser Erinnerungsvermögen wiedererlangt haben“, sagte Yael.

„Aber wenn die KI ihm nicht helfen kann, wie sollen wir es dann schaffen?“, gab Jiim zu bedenken. „Die KI ist uns intellektuell baumhoch überlegen – und soweit sie sich äußert, leidet sie selbst nicht unter der Amnesie.“ Er seufzte und presste die Fäuste gegen die Schläfen. „Wenn in meinem Schädel nur nicht so eine schreckliche Leere wäre! Was ist mit uns passiert?“ Er bog den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke. „Wieso dürfen wir es nicht erfahren, bevor wir die Aufgabe erledigt haben, die Sesha uns stellt? Das ist reine Willkür! Oder ist das, was die KI uns vorenthält, so schrecklich, dass wir im Vollbesitz der jetzt noch blockierten Kenntnisse, daran zerbrechen könnten?“

„Das wäre die akzeptable Variante“, sagte Cloud. „Es gibt aber auch eine andere, die ein weniger gutes Licht auf die KI wirft.“

Beide Nargen sahen ihn fragend an.

„Ich rede davon, dass sie ihr Wissen als Faustpfand zurückhält, um uns zu zwingen, den Job zu erledigen.“

Ohne mit einem einzigen Wort auf die Vorwürfe oder darauf einzugehen, warum sie minutenlang geschwiegen hatte, meldete sich in diesem Moment Sesha mit den Worten wieder: „Innerhalb von Qiliis‘ Ringschädels befindet sich ein Gerät, das von mir zwischenzeitlich ausgelesen werden konnte. Die enthaltenen Informationen sind hochbrisant und von immensem Wert, was unsere weitere Vorgehensweise angeht. Kann ich beginnen, sie zu übermitteln?“

Sowohl Cloud als auch die Nargen fühlten sich ein weiteres Mal überrumpelt.

„Um welche Art von Information handelt es sich? Und um was für ein ‚Gerät‘? Wer hat es dort eingepflanzt?“

„Es sitzt im zerebralen Cortex des Talianers. Man könnte es ein Zusatzgedächtnis nennen. Aber das ist nur eine seiner Funktionen. Offenbar dient es der Kommunikation über Distanzen, wie sie im Allgemeinen mittels Technik überbrückt werden, mittels Funk.“

„Aber um Funk handelt es sich nicht? Worum dann?“

„Eine Art Telepathie – aber technisch generiert. Die Talianer sind laut meinen Datenbanken nicht von Natur aus zum Gedankenlesen oder -senden befähigt.“

„Wie verlässlich ist die Quelle, aus der du zitierst?“

„Wenden wir uns der dringlicheren Problematik zu“, wich Sesha aus.

Einmal mehr verfluchte Cloud die KI, die immer wieder durchblicken ließ, über einen Fundus von Wissen, auch Qiliis betreffend, zu verfügen, aber nicht bereit war, diesen uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen.

Noch nicht jedenfalls. Angeblich wartet sie ja damit, bis wir unsere Erinnerungen vollständig zurückerlangt haben. Nur: Wissen wir dann nicht vielleicht ohnehin, was sie weiß? Wenn ich der Commander dieses Schiffes war, müsste ich doch im Groben wissen, was sich in den Informationsspeicherbänken befindet. Oder wo liegt der Denkfehler?

„Beende deine dir selbst auferlegte Zurückhaltung und Geheimniskrämerei, Sesha!“, fauchte er ins Off. „Was hast du aus diesem Chip – oder was immer es ist – im Schädel des Talianers auslesen können? Bringt uns der Inhalt weiter?“

„Davon ist auszugehen. Er wurde von mir bereits entsprechend aufbereitet und muss nur noch injiziert werden.“

„Injiziert?“ Jiim wirkte verstört.

Zu Recht, wie Cloud fand.

„Die Informationsquanten, die ich gewinnen konnte, sind für biologische Existenzen unverträglich.“

„Weil?“

„Inkompatibel. Die Folgen, würde man sie organischem Leben injizieren, wären unabsehbar.“

„Bleibst also du. Du bist kein Lebewesen, so ist es doch? Damit bist du prädestiniert, das Wissen des Talianers aufzunehmen und an uns weiterzugeben.“

„Selbst für Nichtleben wie mich bleibt ein Restrisiko, das … nun, das ich nicht bereit bin einzugehen, zumal eine Alternative zur Verfügung steht. Mein Ausfall wäre nicht verschmerzbar. In eurer gegenwärtigen Verfassung wärt ihr ohne mich hilflos und die Aussichten, die anstehende Mission erfolgreich zu bewältigen, lägen ebenso bei null wie die spätere Übernahme der Kontrolle über das Schiff.“

„Wenn man ihr eins nicht vorwerfen kann“, bewies Yael Sinn für Sarkasmus, „dann Bescheidenheit.“

Cloud riss der Geduldsfaden. „Wenn kein Lebewesen und du nicht infrage kommen, wer dann?“

„Mein Retter. Ohne den ich verloren gewesen wäre. Er ist bereits unterwegs zu euch. Ich habe ihn reaktiviert, aber er ist nicht mehr der Alte, und ich fürchte, der, der er war, ist für immer verloren. Irgendetwas ist während des Transfers schiefgegangen, und ihn hat es von euch allen am heftigsten getroffen.“

„Was für ein Transfer? Und von wem zur Hölle redest du?“

Wie zur Antwort klangen schwere, hallende Schritte auf. Das Schott glitt auf, und eine hünenhafte Gestalt mit metallisch glänzender Haut trat in den Raum.

„Sein Name wird euch nichts sagen, noch nicht jedenfalls. Aber es schadet nicht, ihn zu kennen. Ich darf vorstellen: Jarvis. Beziehungsweise, was von ihm übrig ist.“

KAPITEL 3

„Handelt es sich hierbei um das, das man … einen Roboter nennt?“, hörte Cloud sich fragen. „Oder blicken wir lediglich auf eine lückenlos geschlossene Rüstung? In letzterem Fall: Wer oder was verbirgt sich darin? Wie du dir denken kannst, Sesha, sagt mir der von dir genannte Name nicht das Geringste.“

„Es ist zugegeben kompliziert“, antwortete die KI – falls es denn eine Antwort sein sollte.

Die Gestalt näherte sich ihnen bis auf wenige Meter. Ihr Gewicht ließ sich nur anhand der Erschütterungen erahnen, die sich dabei durch den Boden pflanzten.

In dem Auftritt schwang etwas mindestens latent Bedrohliches mit, und nur der Umstand, dass Sesha ihn zuließ, entschärfte die Situation.

Genau wie die beiden Nargen, versuchte auch Cloud seine Souveränität zu wahren, obwohl das Erscheinen des Roboters – er entschied sich für diese Begriffswahl – sein Nervenkostüm auf die Probe stellte.

Die Neugier trieb offenbar Yael als Ersten dazu, auf den Metallenen zuzugehen. Er hielt jedoch respektvollen Abstand, als er ihn umrundete und von allen Seiten in Augenschein nahm. Sein Artgenosse Jiim ließ ihn gewähren, auch wenn ihm spürbar unwohl war.

Cloud entschied, ebenfalls an den Roboter oder was immer es war heranzutreten. „Kennen wir uns?“, fragte er.

Der Ankömmling schwieg. Bei seinem Gesicht – wenn man es so nennen wollte – endete die Ähnlichkeit mit einem Menschen, wie der Rest des Körpers sie offenbar vorzutäuschen versuchte. Die Physiognomie war allenfalls angedeutet.

„Er ist wortkarg geworden“, räumte Sesha ein. „Anders als in der Zeit vor dem Ereignis. Aber vielleicht ändert sich das nach der vorgesehenen Behandlung.“

Das Ereignis. So umschrieb die KI das Geschehen, das irgendwann in dem gegipfelt hatte, womit sie sich auch hier und jetzt konfrontiert sahen.

„Vorgesehene Behandlung?“, hakte Cloud sofort nach. „Was genau ist damit gemeint?“

„Nun, falls keine Einwände bestehen, werde ich ihn mit den erwähnten Quanten impfen. Da sich seine Reaktion nicht sicher voraussagen lässt, werde ich Maßnahmen zu meinem und eurem Schutz ergreifen.“

Die KI hatte noch nicht ausgesprochen, als Cloud bereits ein Flimmern bemerkte, das sich zylindrisch um den Metallkörper herum aufbaute.

Eine Energiebarriere. Sesha hat einen Wall um ihn errichtet.

„Ich beginne jetzt“, ließ die KI verlauten.

Fast augenblicklich verwandelte sich die Gestalt hinter der schützenden Wand, sodass die Maßnahme sich schneller auszahlte, als den Beteiligten lieb sein konnte, denn es blieb nicht bei der Verwandlung an sich – die herausgebildeten Waffenarme des Robotwesens begannen sofort und ohne Vorwarnung sonnenheiße Vernichtung zu speien.

Die Schüsse trafen die Innenseite der Abschirmung, und die daran zerplatzende Energie ließ die Gestalt im Inneren der Blase hinter brachialer Lichtflut verschwinden.

Sowohl Cloud als auch die beiden Nargen hatten sich reflexartig abgewandt, um keine bleibenden Augenschäden zu riskieren. Aber trotz des Walls, der dem Beschuss standhielt, klang Seshas Beteuerung „Er ist unter Kontrolle. Für euch besteht keine Gefahr“ wie blanker Hohn.

Cloud konnte sich deshalb ein sarkastisches Auflachen auch nicht verkneifen.

Erst als der Beschuss ebenso abrupt endete, wie er begonnen hatte, richtete er den Blick wieder auf die Abschirmung und suchte vergebens nach dem Roboterwesen.

Die Blase war leer. Verlassen.

Sein erster Gedanke war: Es hat sich selbst zerstört. Die Energiesalve, die für uns gemünzt war, wurde auf den Schützen zurückgeworfen. Den Gewalten hatte er offenbar nichts entgegenzusetzen.

Eine „Pfütze“ wie von verflüssigtem Metall am Boden bestärkte Cloud in seiner Einschätzung; offenbar war dies alles, was von dem ominösen „Jarvis“ übriggeblieben war.

Er hielt mit seiner Verärgerung nicht hinter dem Berg. „Du bist uns eine Erklärung schuldig, Sesha – verdammt!“

„Eine Überreaktion“, konstatierte die KI gewohnt emotionslos. „Ich hätte sie voraussehen … zumindest in Betracht ziehen müssen. Mein Fehler.“

Noch während sich Cloud zähneknirschend fragte, ob er eine so billige Entschuldigung hinnehmen sollte, meldete sich Yael zu Wort. Im Rückwärtsgehen zog er seinen Elter mit sich und keuchte: „Es ist noch nicht vorbei. Das Ding … lebt noch! Ich empfange …“

Cloud konnte ihn nur fassungslos anstarren. Bislang hatte er den Nargen mit dem goldenen Hautton als gleichwertigen Leidensgenossen betrachtet, genau wie den zweiten, nur andersfarbigen Vertreter dieser nichtmenschlichen Spezies. Aber offenbar war sein Verstand in Mitleidenschaft gezogen, sonst hätte er das Maschinenwesen nicht mit etwas Lebendigem verglichen; erst recht nicht, nachdem es sich in das verwandelt hatte, was nicht einmal mehr äußerlich auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem denkenden, fühlenden Geschöpf hatte. Sobald die Lache erkaltet und zu einer harten Kruste erstarrt war, würde Sesha ihre Bordhelfer veranlassen, sie zu beseitigen.

Yael teilte diese Überzeugung offenbar nicht, denn er fuhr unbeirrt fort: „… Impulse. Es … es entspricht dem, was auch ihr, du John Cloud und du Jiim, ausströmt: Gedanken. Es – es denkt! Selbst in diesem Zustand denkt es unentwegt! Aber seine Panik überlagert alles.“

„Was redest du für einen Unsinn?“ Clouds Blick suchte Jiim, um sich seiner Unterstützung zu versichern; Artgenosse hin oder her, auch der zweite Narge musste erkennen, dass mit Yael etwas nicht stimmte. Er litt unter Wahnvorstellungen und dass er sich gerade als Telepath outete, für den es kein Tabu darstellte, in den Gehirnen anderer zu spionieren, machte ihn in Clouds Augen weder sympathischer noch glaubwürdiger. Selbst dann nicht, wenn er sich die Fähigkeit, mit der er prahlte, ebenfalls nur einbildete.

Nachdem Jiim keine Anstalten machte, Stellung zu beziehen, wandte sich Cloud an die einzige Instanz, die noch verblieb und bei der zumindest die Hoffnung bestand, dass sie sich objektiv verhielt. „Sesha, du hast gehört, was er sagt. Ich fürchte, er muss in Gewahrsam genommen werden, zu seiner und unserer Sicherheit. Yael fantasiert in so ungesunder Weise, dass er uns keinerlei Hilfe wäre. Vielleicht lassen sich seine Wahnvorstellungen …“

Die KI reagierte anders, als von ihm erwartet. „Die Aussagen des Nargen entsprechen den Tatsachen. Jarvis ist mehr als eine Maschine. Jarvis denkt und fühlt nach wie vor wie der Mensch, der er einmal war. Ihm fehlt lediglich das, was auch euch abhandengekommen ist: seine Erinnerung. Hätte er euch erkannt, wäre es niemals zu dieser Affekthandlung gekommen. Immerhin seid ihr Freunde. – Erwarte jetzt keine Definition dieses Begriffs von mir. Ich bin sicher, es gehört zu eurem Basiswissen, das euch erhalten blieb und befähigt, Freundschaft schon rein intuitiv zu verstehen – besser vermutlich als ich es je könnte.“

Freunde, wiederholte Cloud beinahe widerwillig, weil etwas in ihm sich mehr denn je weigerte, diese Fremden als das zu akzeptieren, was die KI ihnen bescheinigte.

Freunde.

Wie verrückt würde es noch werden? Welche Überraschungen hielt Sesha noch bereit?

„Du willst sagen, Yael sei ein Telepath? Und die Reste dort in der Glocke seien immer noch in der Lage zu denken, obwohl die von ihm selbst entfesselten Gewalten alles zerstört haben, was selbst die Maschine – der du auch, wenn ich recht verstehe, zubilligst, mehr als eine solche zu sein – an Komplexität hat vorweisen können? Verflüssigtes Metall denkt aber definitiv nicht, und ihm wohnt auch bestimmt nichts inne, was meiner Definition von Leben auch nur nahekäme!“

„Jarvis war schon immer impulsiv – aber nicht einmal ich habe erwartet“, sagte die KI, „dass die Impfung zu einer so schnellen und radikalen Reaktion führen könnte. Ich versuche, auf ihn einzuwirken, aber meine Möglichkeiten sind beschränkt, solange auch er sich nicht erinnert. Bei ihm geht die Blockade noch sehr viel tiefer als bei euch, sonst hätte ich ihn schon früher eingespannt, um außerhalb des Schiffes aktiv zu werden. Doch das hätte im schlimmsten Fall mehr Probleme erzeugt als Nutzen erbracht.“

„Was sollte sich daran geändert haben?“, fragte Cloud. „Wenn er so eine tickende Bombe ist, wird ihn auch die Übertragung der Quanten, mit denen du ihm Qiliis Wissen zu übermitteln hoffst, nicht zähmen. Aber genau das hast du vor, wenn ich dich nicht völlig missverstanden habe: Er soll gemeinsam mit uns rausgehen und dafür sorgen, dass die ‚Bestrahlung‘ durch die Projektoren ein Ende findet. Mit Qiliis‘ Wissen, so die Theorie, müssten wir sie einfach abschalten können. Ansonsten bliebe uns nur der mit hohen Risiken behaftete Versuch, sie zu zerstören. – Soweit richtig?“

„Es erhebt sich!“

Yaels Ruf unterbrach Clouds Dialog mit der KI. Und entlarvte schon einmal seinen größten Irrtum, nämlich den, dass Jarvis seinen eigenen Waffen zum Opfer gefallen und dabei irreparabel beschädigt worden war.

Denn wie sonst wäre es zu erklären gewesen, dass die formlose „Flüssigkeit“ sich in diesem Augenblick – immer noch umgeben von einem Wall transparenter, die Umgebung schützender Energie – nach oben schraubte und im Zeitraffertempo zu ihrer ursprünglichen Gestalt zurückfand.

Auferstanden aus Ruinen.

Cloud wusste nicht, ob er den Spruch gerade selbst erfunden oder irgendwann in seinem Vorleben aufgeschnappt hatte. Obwohl er ihm nur bedingt passend erschien, verstärkte er das Gefühl von Tragik, das ihn beschlich, während er, genau wie die beiden Nargen, Zeugen von Jarvis „Auferstehung“ wurde.

Dabei entsprach die Neugestaltung dem, wie das Roboterwesen sich ihnen ursprünglich präsentiert hatte: Arme liefen in Händen mit jeweils einem Daumen und vier Fingern aus, nicht in Waffen und ungut glimmenden Abstrahlpolen. Da sich dies aber schon einmal gedankenschnell geändert hatte, zögerte Cloud, dies bereits als eine nachhaltige Entspannung der Lage zu werten.

Umso unverständlicher empfand er es, dass die KI schon wenige Sekunden später offenbar den Rückbau des Schutzwalls veranlasste, den sie davor in weiser Voraussicht noch selbst errichtet hatte.

Entsprechend harsch kam Clouds Ruf: „Sesha! Welcher Teufel hat dich geritten …“

„Seid beruhigt“, fiel die KI ihm ins Wort und richtete ihren Appell offenbar auch an die Nargen. „Ich habe in sein System eingegriffen, obwohl ich es gerne vermieden hätte. Unter anderen Umständen wäre der Bewahrer unantastbar. In der gegebenen Situation allerdings bedarf es des Konsenses zwischen euch, um die anstehende Aufgabe in optimaler Weise zu erfüllen.“

„Du meinst, du hast ihn kastriert?“, fragte Cloud.

„Ich fürchte, das ist keine zutreffende Definition meines Eingriffs. Ich blockiere lediglich den Zugriff des Bewahrers auf körpereigene Mittel, mit denen er im Affekt und aufgrund des anhaltenden Nichterkennens eurer Identitäten nicht wiedergutzumachende Schäden anrichten könnte.“

„Uns umbringen“, brachte Jiim es auf den Punkt.

„In letzter Konsequenz würde auch das drohen“, räumte die KI ein.

„Wieso nennst du ihn ‚Bewahrer‘?“, rieb Yael sich offenbar an etwas anderem. „Und warum betonst du seine Unantastbarkeit? Steht er rangmäßig noch über dem Commander hier an Bord, über John Cloud?“

Cloud ertappte sich dabei, anerkennend zu nicken. Immerhin stellte der flügellose Narge exakt die Fragen, die von ihm, Cloud, hätten kommen müssen, wäre er tatsächlich derjenige, von dem bislang nur andere behaupten, dass er es war: der eigentliche Befehlshaber des in Ketten gelegten Raumschiffs. Sollte dies überhaupt der Wahrheit entsprechen, gehörten die Verdienste, die ihn in solche Position gehoben hatten, der gleichen Vergangenheit an, in deren Nebeln auch jede andere Erinnerung versunken war.

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